RHIZOM
Von Stängeln, Plateaus und Knötchen
Wer die Grenzen methodisch leugnet, wird etwas von der wirklichen Landschaft erblicken. André Breton
Mit einer kleinen Lesung von Gedichten eröffnete Regine Schmutterer am 30. November 2024 die Ausstellung „Vielfalt der Perspektiven“ der Ateliergemeinschaft „S18“ in der Galerie „Treffpunkt Kunst“ des Kunstvereins Ottobrunn. Gemeinsam mit Ulrike Ganter, Martina Schulz, Angelika Müller und der Leiterin der „S18“, Annegret Poschlep, präsentiert diese Gruppe von Künstlerinnen eine Auswahl aktueller Werke mit ganz unterschiedlichen Sichtweisen, Motiven, Techniken, Materialien: Vielfalt eben. Die Gedichte von Regine Schmutterer sind integraler Bestandteil der ästhetischen Komposition, die sich im Ausstellungsraum – so lautet auch der Titel eines der Gedichte – darbietet. Sie hängen, stehen, liegen zwischen den Bildern, leiten die Betrachtung ein, geben Anregungen für die Reflexion, führen über die Bilder hinaus, manche sind sperrig, bilden in ihrer spröden, einsilbigen Textur einen Widerstand gegenüber der Farbigkeit, dem Ausufernden, dem Fließenden der Bilder.
Beide ästhetischen Ausdrucksformen, die Gedichte und die Bilder, weisen bei aller Unterschiedlichkeit im Einzelnen, an der Oberfläche, gemeinsame, subkutane Linien, konzeptionelle Grundgedanken auf.
Bei den Gedichten können dies einsilbige Worte, einzelne Silben, einzelne Buchstaben-Kombinationen, also Laute, Geräusche, oder eine fiktive, surreale Bewegung – zum Beispiel ein Kopf, der wie ein Geschoß durch eine Wand fliegt und dahinter in Tausend Einzelteile zersplittert – sein, die gewissermaßen das Rückgrat des Textes bilden, an dem sich die Assoziationen (der Autorin) im Text und die der Lesenden, Zuhörenden des Textes festhalten, andocken, zu verflechten beginnen.
Bei den Bildern fesseln die überbordende Farbenpracht, die fließenden, auf Konkretion und Figürlichkeit weitgehend verzichtenden Formen, die Materialien, die je nach Licht und Temperatur verschiedene Nuancen der Farbe annehmen, die Veränderung des spezifischen Ausdrucks im Wechselspiel der Bilder untereinander, die die fünf Künstlerinnen der Ateliergemeinschaft „S18“ in den Räumen der Galerie konzipiert haben. Die Vielfalt, die sich in der Gesamtkomposition der Ausstellung wie auf einem Plateau präsentiert, korrespondiert mit dem Geflecht an konzeptionellen Orientierungspunkten und Leitlinien, die unterhalb des Plateaus ein Wurzelwerk bilden. Das Wurzelgeflecht verbindet die Einzelteile an der Oberfläche, stellt Zusammenhang her.
Zwei Beispiele mögen diesen konzeptionellen Zusammenhang veranschaulichen. Eine „Leitlinie“, die die Bilder der fünf Künstlerinnen verbindet, ist der Versuch, das Experiment, das Spiel mit dem Material, mit den Farben, mit der Technik. Es soll nichts abgebildet werden, es soll etwas entstehen. Leinwand und Farbe, Temperatur und Feuchtigkeit, Bewegungen der Arbeitsfläche, Gestik des Arbeitsgeräts, alle diese Elemente setzen einen Prozess in Gang, der mehr oder weniger von der Künstlerin gesteuert, etwas werden lässt. „Erzähl mir eine Geschichte, Farbe!“ An einem bestimmten Punkt hält die Künstlerin diesen Prozess an. Mehrere Bilder entstehen auf diese Weise, bilden kachelartige Komplexe (Oberfläche), führen (im Untergrund) zu Verdickungen der Leitlinie, bilden Knoten, Orientierungspunkte.
Eine andere „Leitlinie“ ist die Negation der konkreten Begrenzung des Maluntergrunds: Leinwand, Papier, Anderes, ein vorgegebenes Maß. Das Werden im Prozess nimmt auf diese künstliche Limitation keine Rücksicht, die Farbe „entwickelt“ sich über die Oberfläche der Leinwand, des Papiers hinaus, läuft an der Seite herunter, eine Momentaufnahme im Prozess. Im anderen Fall fließt die Farbe auf das Blatt Papier, das daneben liegt. Es entstehen gesplittete Großbilder. Die bewusste Grenzüberschreitung verdichtet sich zu einem Knoten im Geflecht der Verbindungslinien zwischen den einzelnen Bildern, Bildelementen.
Die französischen Wissenschaftler Gilles Deleuze und Félix Guattari haben für diesen komplexen, wuchernden Prozess als Kritik gegen das Denken in Kausalketten das Wort „Rhizom“ geprägt. Unter einem Rhizom verstehen Deleuze/Guattari ein sich ständig im ‚Werden‘ befindendes Gewächs, in dem wuchernde Stängel, Fasern und Wurzeln fortwährend beliebige Punkte, Vielheiten und Plateaus miteinander verbinden. Sie sagen:
„Das Rhizom selbst kann die verschiedensten Formen annehmen, von der Verästelung und Ausbreitung nach allen Richtungen an der Oberfläche bis zur Verdichtung in Knollen und Knötchen.“ (Deleuze, G./Guattari, F.: Rhizom, Berlin 1977, S. 11)
Die Stängel, Fasern und Wurzeln in diesem Bild sind nichts anderes als die assoziativen und konnotativen
Bedeutungselemente: Punkte, Vielheiten und Plateaus, die die Künstler*innen im Herstellungsprozess und die Betrachtenden, Lesenden, Zuhörenden im Rezeptionsprozess
entwickeln, um sie so zu einem Gesamtzusammenhang, einem Rhizom zu verknüpfen und verketten.
Verlässt man die Präsentation im Ausstellungsraum der Galerie und begibt sich zurück an den Ort, an dem diese Kunstwerke, Texte und Bilder, entstanden sind, so könnte man den Raum der Ateliergemeinschaft als ein Gewächshaus beschreiben, in dem die Künstlerinnen Ulrike Ganter, Angelika Müller, Annegret Poschlep, Regine Schmutterer, und Martina Schulz eine ideale Atmosphäre, fruchtbare Boden- und Raumverhältnisse vorfinden für das Werden ihres künstlerischen Schaffens.
Die Ateliergemeinschaft „S18“: ein Rhizom.